Diese Spaltung wirkt fort. Deutliche Mehrheiten beider Lager stehen unverbrüchlich hinter ihrer damaligen Entscheidung. Die kompromissbereite Position von Theresa May trifft zwar durchaus auf Zustimmung in der Bevölkerung, der Gruppe der Moderaten stehen aber zahlenmäßig vergleichbare Lager hartleibiger Brexiteers und kompromissloser Remainers gegenüber. Dies belegen die Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Befragung der britischen Wähler_innen durch policy matters im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Zwei Jahre verhandelten die britische Regierung und die EU intensiv über die konkreten Bedingungen des Brexits. Die Positionierung der EU stößt durchweg auf sehr negative Resonanz, aber auch mit der Verhandlungsführung der Regierung May zeigen sich zwei Drittel der Brit_innen unzufrieden. Selbst innerhalb der Anhängerschaft der Konservativen halten sich Zustimmung und Kritik die Waage. In Sachen Brexit-Verhandlung sehen die Brit_innen aber auch in Labour keine Alternative: In sie ist das Vertrauen sogar noch deutlich geringer. Premierministerin Mays Chequers-Plan, die Blaupause für den aktuell vorliegenden Deal, vermag nur vier von zehn zu überzeugen, eine deutliche Mehrheit lehnt ihn ab. Mays Dilemma: Die Gründe für die Ablehnung zielen in völlig unterschiedliche Richtungen. Den einen ist der Ausstieg nicht konsequent genug, die anderen empfinden die darin beschriebenen Maßnahmen als zu weitgehend.
Grund für die fundamentalen Meinungsverschieden-heiten sind die gegensätzlichen Einschätzungen der Folgen des bevorstehenden Brexits. Die Ausstiegsbefürworter_innen erwarten mehrheitlich eine Stärkung des Landes, während die Brexitgegner_innen eine Schwächung befürchten – eine Befürchtung, die auch unter den Brexiteers jeder Vierte teilt. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass der Anteil der Zweifler_innen am eigenen Referendumsentscheid im Lager der Brexiteers mit 17 Prozent mehr als doppelt so groß ist wie im Lager der EU-Befürworter_innen (7 %)
Über zwei Ziele in der Vereinbarung besteht allerdings weitgehende Einigkeit bei Brexiteers und Remainers sowie bei den Wähler_innen der Konservativen und von Labour. Erstens dürfe der Ausstieg keinesfalls zulasten der unmittelbar betroffenen Menschen gehen. Britische Bürger_innen, die ihren Wohnsitz in einem EU-Staat haben, sollen ebenso wie aktuell in Großbritannien lebende EU-Bürger_innen ihren Wohnsitz behalten dürfen. Und zweitens sollten Grenzkontrollen zwischen Irland und Nordirland unbedingt verhindert werden. Den Brexit-Befürworter_innen ist darüber hinaus allerdings ebenso wichtig, dass der Europäische Gerichtshof in der britischen Rechtssprechung keine Rolle mehr spielen dürfe – eine Forderung, die nur jeder zweite Remainer teilt. Strittiger noch sind die Auswirkungen des Brexits auf den Außenhandel des Vereinigten Königreiches. Für Ausstiegsbefürworter_innen steht so gut wie fest, dass ein unabhängiges Großbritannien bilateral vorteilhaftere Handelsverträge aus-handeln könne – was die Ausstiegsgegner_innen mehrheitlich bezweifeln.
Ungeachtet des mehrheitlichen Zweifels am Nutzen des Brexits findet die Forderung nach einem zweiten Referendum bemerkenswert wenig Beifall. Nur 43 Prozent fordern ein neuerliches Votum, eine knappe Mehrheit von 54 Prozent lehnt dies ab – nicht zuletzt deshalb, weil sich auch immerhin jede_r vierte Ausstiegsgegner_in an das knappe Ergebnis des ersten Referendums gebunden fühlt. Umgekehrt scheinen die Brexiteers ihrer Sache nicht mehr ganz sicher zu sein: Immerhin vier von zehn Befürworter_innen des Ausstiegs wollen die Rückkehroption nicht ausschließen – eine Option, die im Lager der Remainer fast nur Befürworter_innen hat (91 %).
Das Offenhalten eines Rückkehrrechts dürfte nicht zuletzt daher rühren, dass sich das Image der EU auch in Großbritannien spürbar verbessert hat. Eine relative Mehrheit der Brit_innen bewertet – quasi im Rückblick – die EU-Mitgliedschaft als vorteilhaft für das eigene Land; nur ein Drittel ist der Überzeugung, die Nachteile würden überwiegen. Die EU steht für die Brit_innen heute mehrheitlich für sichere Lebensverhältnisse, für Wohlstand, Gerechtigkeit und für eine sichere Währung – offenbar haben der Wertverlust des Pfunds und die Warnungen aus der englischen Wirtschaft vor den negativen Folgen des EU-Ausstiegs Spuren hinterlassen. Es mutet paradox an, dass sich die traditionell EU-kritischen Brit_innen kurz vor dem Vollzug des Brexits der eher positiven EU-Bewertung der Kontinentaleuropäer_innen angeglichen haben.
Das Brexitvotum ist nicht als Misstrauensvotum gegenüber den verbleibenden EU-Mitgliedsstaaten zu verstehen. Im Gegenteil: Jeweils relativ deutliche Mehrheiten der Brit_innen bewerten das Verhältnis zu wichtigen EU-Partnerstaaten wie den Niederlanden, Deutschland, Frankreich und Polen als ausgesprochen vertrauensvoll. Die langjährige gemeinsame Mitgliedschaft in der EU hat offenbar zu einer Entspannung der historisch nicht unbelasteten Beziehungen zu einigen dieser Länder beigetragen. Keine schlechte Grundlage für die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU.